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„Stille Landschaften“ untersucht die Spuren der fast drei Millionen Sudetendeutschen, die zwischen 1945 und 1947 aus den Grenzgebieten der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Über Jahrhunderte lebten deutschsprachige Gemeinschaften in Böhmen, Mähren und Schlesien und prägten die kulturelle und wirtschaftliche Identität der Region. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte ihre Zwangsumsiedlung zum Verschwinden ganzer Dörfer – zurück blieben verlassene Häuser, Friedhöfe und Ruinen – stille Zeugen einer schmerzhaften Geschichte.
Die Vertreibung war das Ergebnis langjähriger Spannungen. Nach der erzwungenen Abtretung des Sudetenlandes 1938 marschierten deutsche Truppen 1939 in die verbliebenen tschechischen Gebiete ein. Das nationalsozialistische Deutschland errichtete unter dem Namen «Protektorat Böhmen und Mähren» ein hartes Besatzungsregime. Der Krieg verwüstete das Land, und Tragödien wie die Zerstörung von Lidice 1942 hinterließen tiefe Wunden im tschechischen und deutschen Gedächtnis. Die Beneš-Dekrete schufen die Voraussetzung für die 1945 von den Alliierten im Potsdamer Abkommen gebilligte Ausweisung der deutschen Minderheit aus der Tschechoslowakei. Ganze Gemeinschaften verschwanden, und einst blühende Dörfer wurden zu Geisterstädten. Für jene, die gehen mussten, war das Exil dauerhaft.
Was heute bleibt, sind Spuren jäh unterbrochener Leben: moosbedeckte Grabsteine auf vergessenen Friedhöfen, zerfallene Kirchenmauern und von Stille überwucherte Ruinen.
Die Geschichte des Sudetenlands ist eine Geschichte von Zugehörigkeit und Bruch, von aufgehobener Koexistenz. Es ist eine fragile Erzählung von Erinnerung und Verlust – die Echos der Vertriebenen flüstern noch immer durch die stillen Landschaften.
Nové Domky (Neuhäusel), nahe der deutsch-tschechischen Grenze.
Im Oktober 1946 mussten meine Großeltern und ihre drei Kinder -Hugo, Traudel und mein Vater Klaus - ihr Zuhause in Teplitz-Schönau (heute Teplice v Čechách) verlassen.
Mit nur 24 Stunden Vorankündigung und 50 Kilogramm Gepäck wurden sie, wie Millionen andere, in eine ungewisse Zukunft nach Deutschland geschickt.
Mein Vater war erst vier Jahre alt, als er das Land verließ, und sprach niemals über seinen Geburtsort. Er weigerte sich, dorthin zurückzukehren – selbst nicht für einen Besuch. Sein Schweigen wurde von vielen geteilt, die diese Umwälzung miterlebt hatten.
Beim Durchsehen des Familienarchivs in Oberursel.
Ich lebe seit 30 Jahren in der Tschechischen Republik. Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 2020 begab ich mich auf eine Reise in die Vergangenheit — eine Reise, die vier Jahre dauern sollte.
Das habe ich gefunden.
Zug von Prag nach Teplice (Teplitz-Schönau), Oktober 2021.
Tante Traudel (oben links) auf dem Klassen-foto der 1. Klasse in Teplice, ca. 1935. Audio: Mit meiner Cousine Christa Demel, die mir Zugang zum Familienarchiv gewährt hat.
Die Schulzeugnisse meiner Tante Traudel von 1936/37 (Tschechisch) und 1942/43 (Deutsch).
Hauptbahnhof, Teplice (Teplitz-Schönau).
Teplice (Teplitz-Schönau).
Kirche St. Valentin, Novosedlice (Weißkirchlitz) — wo mein Großvater Reinhold im Jahr 1899 getauft wurde — während des Umbaus im Jahr 2021.
Audio: Rezitation des Apostolischen Glaubensbekenntnisses beim Sudetendeutschen Tag in Hof.
Also, sie wurden 1928 geboren. Hugo, Klaus, … Hugo … der ist nicht dabei … Klaus auch nicht. Das ist von ’35 … das wird nicht von ’26 oder ’30 sein. Nein, nein.
Pater Prokop Patrik Maturkanič, Teplice 2021
Audio: Pater Prokop Patrik Maturkanič, Pfarrer von Novosedlice (Weißkirchlitz), beim Durchsehen des Kirchenbuchs.
Ou
„Unser letztes Weihnachten in der Heimat“, Klaus und Uta. 26.12.1945.
Städtischer Friedhof in Teplice (Teplitz-Schönau).
Novosedlice (Weißkirchlitz).
Meine Oma Frederike Steinz in Teplice (Teplitz-Schönau).
Städtischer Friedhof in Teplice (Teplitz-Schönau).
Die Straße in Oberursel, in der die Familie ihr Leben neu aufgebaut hat – eine von etwa 800 „Sudetenstraßen“ in ganz Deutschland.
Meine Mutter besucht das Grab der Familie meines Vaters in Weißkirchen.
Teplá (Tepl).
Heydrich ist tot, ebenso Hunderte unschuldiger Tschechen, darunter Frauen und Jugendliche unter 18 Jahren. Ebenso alle Männer, die im kleinen Dorf Lidice lebten. Ihre Mütter, Ehefrauen und Schwestern befinden sich in einem Konzentrationslager.“
Audio: Erklärung von Präsident Beneš zum Massaker von Lidice, London, 29. Juni 1942.
Denkmal für die ermordeten Kinder von Lidice, 23. September 2006
Lidice, ein tschechisches Dorf, wurde im Juni 1942 von den Nazis als Vergeltung für das Attentat auf den sogenannten Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich, einer der Mitorganisatoren des Holocaust, zerstört.
Fast alle männlichen Einwohner und Kinder wurden ermordet sowie die Frauen in Konzentrationslager deportiert.
Heute steht Lidice als starkes Symbol für den nationalsozialistischen Terror und die bleibenden Narben des Krieges in Mitteleuropa.
Am vierten kamen sie. Sie umzingelten ganz Lidice. Einer von ihnen sprach Tschechisch. Einer sprach immer Tschechisch, und sie waren sehr höflich, und alles verlief reibungslos…
Jaroslava Skleničková (Lidice, 7. März 2023)
Jaroslava Skleničková, die letzte überlebende Frau aus Lidice, starb am 27. September 2024 im Alter von 98 Jahren.
Lučina(Grafenried).
Weg nach Lučina (Grafenried), einem ehemaligen deutschen Dorf.
Ich bin Helmut Roith aus Treffelstein. Ich bin 1960 geboren, und als das alles begann - das war im Jahr 2005 - kam ich zum ersten Mal nach Grafenried. Das war alles Urwald hier, richtig Urwald. Dieses Gebäude war total überwachsen.
Helmut Roith (Grafenried, 14. Februar 2023)
Seit 2011 legt der Bayer Helmut Roith zusammen mit dem tschechischen Historiker Zdeněk Procházka und einer engagierten Gruppe von Freiwilligen die Überreste des verschwundenen Dorfes Lučina (Grafenried) frei und verwandelt es in einen bewegenden Ort gemeinsamer Erinnerung und Versöhnung.
Überreste des verlassenen deutschen Dorfes Lučina (Grafenried).
Überreste der Kirche St. Georg.
72. Sudetendeutscher Tag in Hof, Deutschland.
Das Sudetendeutsche Museum, München.
Überreste des verlassenen deutschen Dorfes Lučina (Grafenried).
Die Grabsteine sind alles, was übrig geblieben ist. Wir haben die Grabsteine nie bewegt. Sie lagen alle so da, wie sie jetzt noch liegen, als wir sie gefunden haben. Alles war verwachsen mit Bäumen, Unkraut und so weiter. Wir haben alles von Hand freigelegt — stellenweise bis zu einem Meter tief.
Helmut Roith (Grafenried, 14.Februar 2023)
Friedhof Lučina (Grafenried).
Maria Sommer wurde 1936 in Rathgebern (heute Radkov, Tschechische Republik) geboren und 1948 zusammen mit ihrer Familie vertrieben. Sie ließen sich in der Nähe von Deggendorf in Bayern nieder, wo sie sich trotz Schwierigkeiten ein neues Leben aufbaute. Die tiefe Verbundenheit mit ihrer verlorenen Heimat begleitete sie ihr ganzes Leben lang. Fr. Sommer starb am 4. February 2024 in Regen, Bayern.
Maria Sommer mit ihrem Enkel Konrad (Bild unten).
Kirche St. Anna, Pořejov (Purschau). Audio: 72. Sudetendeutscher Tag in Hof, Deutschland.
Grabstein auf dem Friedhof der Kirche St. Anna (Pořejov).
Friedhof Novosedlice (Weißkirchlitz).
Wir waren zwei oder drei Wochen in Breitenau, und dann war die Aussiedlung, und das war dann das Allerschlimmste für mich. Als Kind kann ich mich erinnern - ich habe gemerkt, dass meine Eltern packen. Und die haben mir dann erklärt, dass wir wieder weg müssen. Und das war… da bin ich bis heute nicht fertig damit.
Ernst Willmann (Geboren 1938 in Breitenau)
Regensburg, Mai 2023
Friedhof Křakov (Krakau).
Grab von Josef (1844–1895) und Magaretha (1842–1915) Medlinger auf dem Friedhof in Křakov (Krakau).
“Und da hatte ich vorher gehört, da ist eine Lehrerin, die Deutsch unterrichtet. Also habe ich sie gesucht und habe sie natürlich auch gefunden. Und jetzt schreiben wir miteinander. Das ist Freundschaft. Was kann die junge Frau dafür? Was kann ich dafür, als altes Weib? Ich war zehn Jahre alt. Ja, so sehe ich das. Weil meine Oma war ja Tschechin...”
Annemarie Heilmann, (Geboren 1935 in Haid bei Tachau)
Regensburg, Mai 2023
Hřbitov Novosedlice (Weißkirchlitz).
Friedhof Lučina (Grafenried).
Und dann kam der 15. Juni 1945. Da wurde angeschlagen und bekanntgegeben, dass am nächsten Morgen alle Leipacher Bewohner, die nicht in Arbeit stehen, um 5:00 Uhr ihre Häuser zu verlassen haben und sich vor dem Bräuhaus zu versammeln – mitzunehmen ist so viel, wie sie tragen können…
Helga Heller (Geboren in Böhmisch Leipa, 1927)
Regensburg, Mai 2023
Friedhof Luby (Schönbach bei Eger).
Kirche St. Anna, Pořejov (Purschau).
Das Einzigste was wir tun können - und woran ich auch immer arbeite - ist, das wir versuchen uns gegenseitig zu verstehen und nicht zu hassen...
Dietmar Schmidt, (Geboren 1939 in Brünn)
Regensburg, Mai 2023
Grab von Karl Heinzmann (1878–1962), Luby (Schönbach bei Eger).
Schloss Jezeří (Schloß Eisenberg) überblickt das nordböhmische Braunkohlerevier, ein Gebiet, das vom Braunkohlenbergbau geprägt ist.
Novosedlice (Weißkirchlitz).
Dorfriedhof in Křakov (Krakau).
Kirche Heiligster Name Mariens in Otín (Ottenreuth).
Im Jahr 1804 fand auf Schloss Jezeří (Schloss Eisenberg) die private Uraufführung von Ludwig van Beethovens 3. Sinfonie, der „Eroica“, statt.
Friedhof Lučina (Grafenried).
Deutsch-tschechisches Grenzgebiet.
Im Jahr 2006 entfernte die tschechische Armee Pappsärge mit den Überresten von 4.300 deutschen Soldaten und Zivilisten aus einer stillgelegten Fabrik, in der sie seit dem Zweiten Weltkrieg gelagert worden waren. Die Toten hatten dort auf ihre letzte Ruhestätte gewartet. Ihre Gebeine wurden später auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Cheb (Eger) beigesetzt.
Ústí nad Labem, 2006.
“Wir stehen hier auf der Brücke und gedenken der Toten aus Aussig und Schreckenstein, die hier am 31. Juli 1945 ermordet wurden. Es waren deutsche Bewohner.”
Brigitta Gottmann (Ústí nad Labem, 31. Juli 2022)
Edvard-Beneš-Brücke, Ústí nad Labem, 2022.
Wir erinnern hier und mahnen zum Frieden und zur Versöhnung…
Dieses Projekt ist allen Menschen auf der Welt gewidmet, die ihre Heimat verloren haben — sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
Und meiner Familie, der Familie Steinz, ohne deren Geschichte es dieses Projekt nicht gäbe.
Mein besonderer Dank gilt: Patrik Maturkanič, Jaroslava Skleničková & Familie, Helmut Roith, Maria Sommer & Familie, Ernst Willmann, Annemarie Heilmann, Helga Heller & Robert Heller, Dietmar Schmidt, Margot Havlik, Brigitta Gottmann.
„Stille Landschaften“ hätte ohne die großzügige Unterstützung von zwei Stipendien der VG Bild-Kunst in Bonn nicht realisiert werden können.
Danke an meine Frau, Lucie Steinzová, für ihre redaktionelle Arbeit, die beständige Unterstützung und ihren Glauben an das Projekt.
Ich danke meiner Cousine Christa Demel für den Zugang zu unserem Familienarchiv. Mit Dank an André Kellerberg & Jakob Schauer für die eindrucksvolle Musik. Danke an Wolfgang Jung für sein durchdachtes Feedback und sorgfältiges Lesen. Danke an Helen Oyeyemi für ihre wertvollen Ratschläge zum Erzählen dieser Geschichte. Danke an Panos Pictures, Adrian Evans und Michael Regnier für ihre Unterstützung. Sämtliche visuellen Inhalte – einschließlich Video, Fotografie und Gestaltung – wurden von Björn Steinz konzipiert und realisiert, © 2025. Alle Rechte vorbehalten.